Es war einmal ein Land, in dem Riesen wohnten. Sie errichteten Bauwerke, groß wie Berge. Sie konnten auch andere unvorstellbare Dinge, gingen dann aber mitsamt ihren schmucken Gebäuden und anderem hoch zivilisatorischen Schnickschnack unter, weil ein großer Sturm über die Erde kam und ihre Inseln und anderen Wohnorte komplett unter Wasser setzte.
Einige Riesen aber konnten sich retten. Fuhren dann mit Schiffen übers Meer, um ihre Zivilisation unter die Wilden zu bringen. Wurden hernach verehrt wie Götter. Bekamen Pyramiden geschenkt, Megalithen, Höhlengemälde, Statuen.
Britischer Erich von Däniken
Ein spannendes Märchen. Es läuft gerade auf »Netflix« und wird von Millionen Menschen angeschaut. War in Großbritannien, den USA und auch in Deutschland in den Top Ten der meistgeschauten Serien. Sein Originalname: »Ancient Apocalypse«, hierzulande aber umbenannt in »Untergegangenen Zivilisationen auf der Spur«.
Ein etwas sperriger Name für ein Märchen, aber andererseits meint es der Onkel, der es erzählt, sehr ernst: Er heißt Graham Hancock, ist eine Art britischer Erich von Däniken und hat etliche Bestseller mit pseudo-archäologischem Inhalt geschrieben. Er glaubt ganz fest daran, dass es die zivilisatorischen »Riesen« einmal gegeben hat. Denjenigen, die ihm sein Märchen nicht abkaufen wollen, etwa studierten Archäologen, wirft Hancock in seiner Dokumentation ganz nach Querdenkermanier Ignoranz und Engstirnigkeit vor.
Pseudoarchäologe Graham Hancock: Mit beseelten Blick durch Trümmer spazieren
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Pseudoarchäologe Graham Hancock: Mit beseelten Blick durch Trümmer spazieren Foto: Derek Storm / Everett Collection / picture alliance
Mit Blick auf den Unterhaltungswert serviert »Netflix« mit »Ancient Apocalypse« solide Kost. Man schaut Hancock, der sich selbst einen Journalisten nennt, nicht ungern dabei zu, wie er durch die Welt reist und ganz beseelt dreinschauend durch die Trümmer jahrtausendealter Bauwerke spaziert.
Er klettert auf den Gipfel eines erkalteten Vulkans zur megalithischen Stätte Gunung Padang in Indonesien, streift durch die unterirdische Stadt von Derinkuyu in der Türkei, besucht die größte Pyramide der Welt in Cholula, Mexiko. Für ihn sind das alles Hinweise auf eine untergegangene Hochzivilisation à la Atlantis, die irgendwann vor etwa 12.800 Jahren, am Ende der Kaltzeit, weitgehend vom Erdboden verschwand.
Eine Art Weltuntergang
Aufregend, denken sich wahrscheinlich viele Zuschauer. Und theoretisch möglich, denn es ist ja verbrieft, dass es während der sogenannten Dryas-Zeit zu klimatischen Verwerfungen kam, die für manche Menschen, die damals lebten, durchaus eine Art Weltuntergang gewesen sein müssen.
Doch so gut gefilmt und unterhaltsam das alles auch ist und so sehr einen auch die Sehnsucht packt, diese ganzen unglaublichen archäologischen Hotspots zu besuchen, so ärgerlich ist es auch, was Hancock da, untermalt von einem bombastischen Soundtrack, erzählt. Nicht, weil er eine Theorie hat, die ernst zu nehmende Archäologen nicht teilen; es ist nicht verboten, anders zu denken als andere, schon gar nicht dann, wenn man sich – so wie Hancock – erkennbar große Mühe gibt, seine Theorien zu belegen.
Schlimm ist es aber, wenn man alle Andersdenkenden abqualifiziert und sie sogar bezichtigt, die Wahrheit verschleiern zu wollen. Ständig faselt Hancock von »Mainstream«-Archäologen, die nur in »konventionellen« Mustern denken wollen, um ihre eigenen Theorien nicht zu gefährden. Als in den vergangenen Tagen etliche Wissenschaftler Kritik daran übten, reagierte Hancock auf Twitter ganz so, wie man es von Verschwörungstheoretikern kennt: Er schrieb von »Archäologen und ihren Freunden von den Medien« und unterstellte, ein Opfer von Cancel Culture zu sein. Das war natürlich kalkuliert und brachte seine Anhänger sofort auf die Zinne; eine Strategie, die laut eines Archäologen, der ungenannt werden will, nicht unüblich sei für Hancock.
Stefan Baumann, Ägyptologe aus Trier, hat sich intensiv mit Menschen wie Hancock und deren Denkmustern beschäftigt. Er ist Herausgeber des 2018 erschienenen Buches »Fakten und Fiktionen«, das den Untertitel »Archäologie vs. Pseudowissenschaften« trägt. »Das Problem ist, dass unsere Disziplin von vielen Menschen nicht richtig als Wissenschaftszweig wahrgenommen wird«, sagt Baumann. Schließlich könnten er und seine Kollegen mit Blick auf viele Funde oft nur gut begründete Vermutungen anstellen, vor allem dann, wenn es keine glaubwürdigen flankierenden Schriftquellen gebe. So bleibe »viel Raum« für Spekulationen und Spinnereien. »Da fühlen sich natürlich viele herausgefordert«, sagt Baumann, »vor allem die, die mal Detektiv spielen wollen.«
Der Wissenschaftler findet es »absolut in Ordnung«, wenn sich auch Laien wie Hancock an der Interpretation von archäologischen Entdeckungen beteiligen. Ihm gefällt es aber überhaupt nicht, wenn deren »Erkenntnisse« dann in den Medien kein Gegengewicht bekommen. Das ist vor allem dann ein Problem, wenn es um Theorien geht, wie sie Hancock nun einem Millionenpublikum auftischt.
Wilde mit Wissen beglücken
Das Narrativ, das der »Journalist« und sein Geldgeber Netflix da bemühen, ist im Grunde das einer Superzivilisation, die nach einer weltumspannenden Katastrophe am Ende der Kaltzeit loszieht, um Wilde mit ihrem Wissen zu beglücken. Bei diesen Wilden handelt es sich um die Jäger- und Sammlerkulturen, die es damals noch gab; Menschen also, die noch nicht sesshaft waren, und vor allem von dem lebten, was sie bei Streifzügen durch Wald und Flur einsammeln oder erlegen konnten.
Hancock hält es für absolut ausgeschlossen, dass diese Menschen von ganz allein auf die Idee kamen, Häuser zu bauen, Landwirtschaft zu betreiben und große Bauwerke wie die Pyramiden oder Kultorte wie Göbekli Tepe zu errichten. Aus seiner Sicht waren dafür Agenten einer untergegangenen Hochkultur vonnöten, die mit dem Schiff herbeikamen und mal erklärten, wie das so geht mit Zivilisation.
Der Archäologe Karl Banghard, Leiter des Freilichtmuseums Oerlinghausen , mag Hancock nicht vorwerfen, gefährliches Gedankengut zu verbreiten – so, wie es die britische Zeitung »The Guardian« vergangene Woche tat; sie hält »Ancient Apocalypse« gar für »die gefährlichste Show auf Netflix«. Was Hancock fehle, sei schlicht »Fantasie«, sagte Banghard dem Deutschlandfunk. Die Fantasie, dass auch Menschen, die so schlicht lebten wie die Jäger und Sammler eben auch zu großartigen Leistungen imstande gewesen seien.