Unlängst trendete eine Frage auf TikTok: Wem würden Frauen allein im Wald eher begegnen wollen – einem Mann oder einem Bären? Und bevor hier jemand reflexhaft die Augen verdreht, nein, die Frage ist gar nicht leicht zu beantworten.
»Das Schlimmste, was der Bär mir antun kann, ist, mich umzubringen«, schrieb eine.
»Der Bär würde es nicht filmen und all seinen Freunden schicken«, antwortete eine andere.
»Man würde nicht fragen, was ich anhatte.«
»Man würde mir glauben.«
»Wenn ich den Angriff überlebe, muss ich den Bären danach nicht auf Familienfeiern wiedersehen.«
Das Gedankenexperiment ist natürlich nicht ganz ernst gemeint. Der gefährlichste Ort für eine Frau ist nicht der Wald. Der gefährlichste Ort für eine Frau ist … – eigentlich müsste an dieser Stelle der Satz kommen, den wir alle kennen, so gut sogar, dass er zu einem Lamento geworden ist, das seinen Schrecken verloren hat. Der Vollständigkeit halber, er lautet: Der gefährlichste Ort für eine Frau ist ihr Zuhause. In den vergangenen Tagen wurde mir aber klar, dass der Satz nicht stimmt.
Nicht, weil das Zuhause nicht gefährlich wäre. Täglich versucht ein Mann, seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten. Jede Stunde erleben mehr als ein Dutzend Frauen Gewalt in ihrer Partnerschaft . Tendenz steigend. Vieles davon spielt sich jenseits der Öffentlichkeit ab. Das Zuhause ist also verdammt gefährlich.
Der Satz ist aus einem anderen Grund nicht korrekt. Er impliziert, dass es sichere Orte gäbe. Oder zumindest solche, die nicht ganz so gefährlich sind. Aber das stimmt nicht.
Solange es Männer gibt, gibt es keine sicheren Orte. Nirgendwo.
Bestimmt fühlt jetzt schon so mancher Mann, wie seine Hände schwitzig werden. Nicht alle Männer sind gefährlich, wollt ihr mir zurufen, was für eine populistische Pauschalisierung, ein Generalverdacht! Vielleicht denkt sogar einer: Sexismus!
Das ist mir egal. Ich habe keine Lust mehr, besonders nett zu euch zu sein. Euch behutsam mitzunehmen. Vorsichtig zu erklären, was schiefläuft. Euch zu beschwichtigen, nein, nein, ihr seid ja nicht das Problem, die anderen Männer sind es. Ihr seid unser Problem, alle.
Frankreich wird gerade von einem Fall erschüttert, der das nahelegt. Der Fall zeigt nicht nur, zu welcher Gräuel ein Mann in der Lage ist. Er zeigt, dass offenbar fast jeder Mann die Gelegenheit zu Gewalt gegen Frauen nutzt, wenn er sie bekommt.
Neun Jahre lang wurde die heute 72-jährige Gisèle Pelicot nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft von ihrem Ehemann Dominique mit Medikamenten sediert und hundertfach vergewaltigt . Etwa 200 Übergriffe sind durch Videos und Fotos dokumentiert. Die meisten zeigen den Mann. Er hat den Horror fein säuberlich auf seinem Computer archiviert. Auch, wie seine Frau offenbar 92-mal von anderen Männern vergewaltigt wird.
Ihr Partner hatte sie über das Internet gesucht. Nur zwei (in Zahlen: 2!) sollen den Raum, als sie die bewusstlose Frau sahen, wieder verlassen haben. Alle anderen ergriffen die Gelegenheit. Manche kamen sogar wieder.
Wir wissen das, weil 50 mutmaßliche Täter identifiziert wurden und derzeit in Avignon zusammen mit Dominique Pelicot vor Gericht stehen. Unter ihnen: Familienväter, Krankenpfleger, Feuerwehrmänner, Informatiker, ehemalige Militärs, Restaurantmanager. Männer jeden Alters, Männer, die man aus der Nachbarschaft kennt, Männer, die beim Bäcker immer nett grüßen, ein Querschnitt der Gesellschaft .
All das kam durch eine Hausdurchsuchung heraus, bei der Ermittler die Gewaltpornografie entdeckten. Gisèle Pelicot wusste bis dahin nichts von dem, was diese Männer und ihr Ehemann, der Vater ihrer drei inzwischen erwachsenen Kinder, ihr angetan hatten. Aufgrund der jahrelangen schweren Betäubung, die für sie hätte tödlich enden können, litt sie unter Symptomen, die kein Arzt richtig deutete. Niemand entdeckte den jahrelangen Missbrauch.
Es ist nicht der einzige Fall, der in den vergangenen Tagen für Entsetzen sorgte. Auch der Femizid an der olympischen Marathon-Läuferin Rebecca Cheptegei aus Uganda lässt einen würgen.
Cheptegei wurde von ihrem Ex-Partner mit Benzin übergossen und angezündet. Mehr als 75 Prozent ihrer Hautoberfläche verbrannten. Sie starb später im Krankenhaus an den Verletzungen.
Männer brauchen nicht einmal den privaten Raum eines Zuhauses, um Frauen zu quälen oder zu töten. Lassen Sie mich noch einen letzten aktuellen Fall erwähnen. Vergangenen Monat wurde eine angehende Ärztin in Indien umgebracht. Nicht zu Hause, sondern an einem Ort, den man eigentlich für sicher hält.
Nach 20 Stunden Arbeit in einem Krankenhaus in Kolkata hatte sich die 31-Jährige in einem Seminarraum kurz schlafen gelegt. Später wurde sie dort tot und mit zahlreichen Verletzungen gefunden. Die Obduktion ihres Körpers ergab Hinweise auf Vergewaltigung. Es gibt Vermutungen, dass es sich um eine Gruppentat gehandelt haben könnte. Nun hat sich der Oberste Gerichtshof eingeschaltet.
Ich bin wütend und ich bin traurig. Weil sich nichts ändert. Weil sich Klimakrise, Kriege, Despotie und Diktatur, fast jedes große Problem, auf eine gemeinsame Ursache zurückführen lassen: Männer.
In den sozialen Medien trendeten vergangene Woche zwei Hashtags, die es auf den Punkt bringen: #notallmen, #butalwaysmen. Nicht alle Männer, aber immer Männer .
Wenn wir etwa über Messerattacken und Terrorismus berichten, wie zuletzt sehr häufig, können wir uns das Gendern sparen. Täterinnen? Gibt es kaum. Täter? Sehr viele. Die Gewaltstatistik stützt diesen Eindruck. Gewaltdelikte werden viel häufiger von Männern begangen, Verbrechen auch.
Gewalt ist kein Gesellschaftsproblem, Gewalt ist ein Männerproblem.
Es sind auch mehrheitlich Männer gewesen, die bei den ostdeutschen Landtagswahlen eine rechtsextreme Partei wählten. Und wenn wir uns über die rechte Jugend Sorgen machen, dann meinen wir damit eigentlich rechte junge Männer. Die, die hassen, die, die »Gendergaga« brüllen und vom Testosteron besoffen erzählen, dass Migrantinnen und Migranten das Land verlassen sollten – es sind vielfach Männer.
Weil man gegen die Zahlen, die diese Befunde belegen, schlecht argumentieren kann, fordert ihr vielleicht, dass man dann genau hinsehen müsse, »Ursachen ermitteln«. Bei diesen Männern, die Gewalttaten begehen, die mit rechtsextremen Tendenzen, da sei etwas schiefgelaufen, heißt es dann. Die fühlten sich abgehängt , man müsse ihre gesellschaftliche Benachteiligung beachten.
Schließlich machen heute Mädchen öfter Abitur als Jungs, sie studieren auch häufiger, und die besseren Noten haben sie auch. Frauen geht es, trotz Gender Pay Gap und Care-Arbeit, finanziell besser als früher. Sie machen Karrieren, ziehen häufiger aus strukturschwachen Regionen weg und sind unabhängiger. Zurück bleiben schlechter gebildete Männer mit geringeren Zukunftsaussichten, sowohl wirtschaftlich als auch familiär. Der Soziologe Steffen Mau nennt das die »demografische Maskulinisierung«. Es heißt: In manchen Regionen in Ostdeutschland gibt es einen Männerüberschuss. Die Verbliebenen haben Schwierigkeiten, eine Partnerin zu finden. Sie bleiben häufiger Single, werden zu sexistischen Incels.
»Die graduelle Nivellierung und der Abbau von Privilegien wird von manchen Männern als Benachteiligung wahrgenommen und führt zu einer tiefen Frustration«, diagnostizierte Marcel Fratzscher, Präsident des deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), in seiner aktuellen Kolumne für »Zeit Online«. Die Soziologen und Ökonomen haben natürlich recht.
Aber ich will kein Mitleid fühlen. Ich kann kein Mitleid fühlen. Weil der männliche Verlust von Privilegien überfällig war. Und weil keine Empathie in mir übrig ist.
Denn der Frust der Männer, eure Wut, euer Hass tötet.
All mein Mitleid gilt den Frauen, die betäubt, vergewaltigt, gequält und umgebracht wurden. Denen, die unter der Gewalt leiden. Verbaler, emotionaler, physischer.
Die Benachteiligung der Männer ist sowieso nichts im Vergleich zu unserer. Niemand schenkt Mädchen bessere Abschlüsse. Niemand wirft Frauen Jobs in Metropolregionen hinterher. Niemand macht bereitwillig Platz in Aufsichtsräten. Frauen mussten darum ringen, einen Führerschein machen zu dürfen, und das ist noch nicht lang her. Jeder Zentimeter Gleichberechtigung ist und wird hart erkämpft. Und es gibt noch immer viel zu tun.
Doch man erwartet offenbar mehr von uns. Frauen sollen nicht nur freundlich die gleichen Rechte fordern (besser: darum bitten), sondern auch noch männliche Tränen trocknen, wenn dabei ihr Ego leidet. Dazu habe ich keine Lust mehr.
Frauen haben sich lang genug um Männer gekümmert. Macht es endlich selbst. Wenn ihr also Schwierigkeiten habt, für die Matheklausur zu lernen oder eine Partnerin zu finden, sorry not sorry.
Es ist Zeit für ein neues Männerbild.
Eure Wut und Frustration dürfen nicht länger zur Gefahr für andere werden. Lernt endlich, eure Gefühle wahrzunehmen und konstruktiv mit ihnen umzugehen. Frauen müssen das auch. Und wir mussten uns erst mal das Wahlrecht erstreiten. Ganz so schwer habt ihr es ja nicht. Emanzipiert euch endlich von euch selbst. Vielleicht findet ihr dann auch ne Freundin.
Und wenn ihr euch bis hierhin nicht angesprochen fühlt, wenn ihr denkt: Ich bin nicht so ein Mann, und ich kenne so einen auch nicht, wie kann es sein, dass fast jede Frau in irgendeiner Form Opfer von Übergriffen wird, aber kein Mann einen Täter kennt?
Solange dieses Umdenken nicht passiert, entscheiden wir uns in der Frage »Mann oder Bär?« für das Tier. Wir gehen nachts mit einem Schlüssel in der Faust nach Hause. Wir haben Angst. Wir sind wütend. Und wir glauben, dass die Welt ohne euch eine bessere wäre.
Wir werden aber nicht zurückgehen, in die Zeit der Macker. Sie ist vorbei.
Gisèle Pelicot hat sich dafür eingesetzt, dass der Prozess gegen ihren inzwischen geschiedenen Partner und die anderen mutmaßlichen Täter in der Öffentlichkeit stattfindet. Die Welt soll erfahren, wozu ein Durchschnittsmann fähig ist. Wir sehen hin, ihr auch?